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von Bernd A. Laska
Panajotis Kondylis, geboren am 17. August 1943, Autor einiger gewichtiger Werke zur Geistesgeschichte der Neuzeit und zur anstehenden “planetarischen Politik”, starb am 11. Juli 1998 — im Alter von knapp 55 Jahren. Wie schon zuvor seine Rezensenten, so wussten auch jetzt die Verfasser der Nachrufe nicht recht, welchen Rang sie diesem aussergewöhnlichen “Privatgelehrten”, der die akademische Philosophie als geistig tot ansah, zugestehen sollten. Aus der Sicht des Autors des LSR-Projekts ist die Frage nach der Bedeutung von Kondylis hingegen klar wie folgt zu beantworten: Kondylis’ herausragendes Verdienst besteht in der Entdeckung der Singularität der Position La Mettries unter den Aufklärern des 18. Jahrhunderts — und in dem gewaltsamen und deshalb durchschaubaren Versuch, die Konsequenzen aus dieser Entdeckung zu vertuschen. Dadurch wurde Kondylis unbeabsichtigt zu einem Paten des LSR-Projekts. Unabhängig von dem aktuellen Anlass des Todes von Kondylis ist die folgende Darstellung des Verhältnisses, das Kondylis zum LSR-Projekt bezogen hatte, von einigem Wert zur Positionierung desselben — analog zum Wert einzelner Kapitel der Re(pulsions- und De)zeptionsgeschichte des Stirner’schen »Einzigen«, die in den »Stirner-Studien« dargestellt werden. Herangezogen werden Auszüge aus den Einleitungen zur La-Mettrie-Werkausgabe und unveröffentlichte Briefe.
Nürnberg, am 25. Juli 1998
Kondylis studierte zunächst in Athen Klassische Philologie und Philosophie, später in Frankfurt/M und Heidelberg Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte sowie Politische Wissenschaft. Er promovierte im Alter von 34 Jahren in Heidelberg und konnte anschliessend, da finanziell autark, als “Privatgelehrter, wohnhaft in Athen und Heidelberg” weiterwirken. Kondylis’ erstes Buch, die gekürzte Fassung seiner Dissertation »Die Entstehung der Dialektik«, erschien 1979 bei Klett-Cotta — mehr als 700 Seiten. Sein nächstes Werk, »Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus«, 1981 im gleichen Verlag erschienen, hatte ein ähnliches Volumen. In beiden Werken hat Kondylis erstaunliche Mengen geistesgeschichtlichen Materials verarbeitet. Deshalb war es für die Leser dieser profunden Studien sehr hilfreich, dass Kondylis als nächstes 1984 einen kompakten Band von gut 100 Seiten vorlegte, in dem er die seiner Sicht der Dinge zugrunde liegende Philosophie des “deskriptiven Dezisionismus” darstellt: »Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage«. Kondylis’ weitere Publikationen, insbesondere jene nach 1989, näherten sich in der Themenwahl immer mehr der aktuellen geopolitischen Situation und den diese begleitenden ideologischen Gebilden. Kondylis zeigte sich u.a. als scharfer Gegner der These, mit dem Sieg des westlichen Systems sei sozusagen the end of history gekommen — als “Anti-Fukuyama”, wie ihn ein Kommentator nannte. Diese Entwicklung von Kondylis’ Werk, gekennzeichnet durch extrem materialreiche Studien und eine Reihe von Aufsätzen und grossen Artikeln (meist in der F.A.Z.), interessiert jedoch hier, wo es um Kondylis’ Bedeutung für das LSR-Projekt geht, nur pauschal (zur Übersicht siehe Bibliographie) und ggf. punktuell.
Das LSR-Projekt gewann erste Konturen, als ich Ende der 70er Jahre begann, mir Klarheit über die unabweisbar deutlich gespürte besondere Qualität der Theorie (nicht der Orgontheorie) von Wilhelm Reich — richtiger: über deren noch weitgehend verborgene spezifische Differenz, insbesondere zur Freud’schen Psychoanalyse — zu schaffen. An diesem Anfang stand die Vermutung, dass die fundamentale Gegensätzlichkeit dieser beiden radikalen Aufklärer auch den Schlüssel zu einem Verständnis der (nach wie vor) nicht wirklich begriffenen Dissipation der Aufklärungsbewegung in das damalige=heutige weltanschauliche Chaos zu liefern vermag. Ich hatte anschliessend, ohne meine intuitive Wegfindung genau rekonstruieren zu können, die strukturgleiche Gegensätzlichkeit bei den auf ihren Wesenskern reduzierten Theorien zweier weiterer radikaler “Aufklärer” gefunden, die in einem ganz anderen ideengeschichtlichen Kontext stehen: bei Stirner und Marx. Die epochalen Siege von Marx über Stirner und Freud über Reich, die jeweils mit grossem taktischen Geschick unter Ausschluss der Öffentlichkeit errungen worden sind, wurden vom mainstream bis heute nicht einmal als solche wahrgenommen. Mir indes erschienen sie, je mehr ich die Details studierte, als ideengeschichtliche Schlüsselereignisse, deren Analysen jedoch nicht nur ein Verständnis der geschichtlichen Vorgänge ermöglichten, sondern vor allem den Weg aus der trostlosen geistigen Situation der Gegenwart zu weisen geeignet waren.
Derart sensibilisiert für die Problematik “Aufklärung”, die mir allenthalben inadäquat behandelt worden zu sein schien, kam mir Kondylis’ grosse Studie von 1981 in die Hände. Nachdem ich Kondylis’ einleitende Bemerkungen über seinen “nihilistischen” Standpunkt und seine Methode gelesen hatte, fand ich schnell und treffsicher jenes Kapitel heraus, das auf 15 Seiten das gedankliche Zentrum der 725-seitigen Abhandlung und zugleich die Achillesferse der Kondylis’schen Philosophie enthielt: »VII. Formen des Nihilismus in der Aufklärung. 3. Die Konsequenten: La Mettrie und Sade« (S. 503-517).
Darin fiel mir sofort als krampfhaft und gewaltsam auf, dass Kondylis diese beiden Autoren unbedingt zusammenspannen, d.h. zu gleichgearteten “Nihilisten” stilisieren will. Daraufhin befasste ich mich intensiv mit den Originalschriften von La Mettrie und Sade und stellte, konträr zu Kondylis, deren im Kern geradezu gegensätzliche Positionen fest. Zugleich entdeckte ich in einer Art serendipity, dass die Kernidee La Mettries der von Stirner und der von Reich im Grunde gleicht und nur in anderen Begriffen zum Ausdruck gebracht worden ist — und dass es eben diese Kernidee gewesen sein muss, die L/S/R zu jeweils in ihrer Epoche einzigartigen Aufklärern gemacht hat, die insbesondere von den politisch erfolgreichen Aufklärern — also Voltaire, Diderot et al.; Marx, Nietzsche et al.; Freud et al. — geradezu verfemt worden sind.
Die Idee des LSR-Projekts war die spontane Folge. Ich beschloss, da La Mettrie — anders als Sade — bisher kaum übersetzt worden war, als erstes eine deutsche Werkausgabe La Mettries herauszugeben, die insbesondere dessen oft sogar Spezialisten für die französische Aufklärung unbekanntes Hauptwerk (das eben nicht »L’homme machine« ist, sondern sein »Discours sur le bonheur«) zugänglich machen sollte. Als erster Band dieser Werkausgabe erschien jedoch 1985 »Der Mensch als Maschine«, den ich mit einem Essay einleitete, in dem ich u.a. die Arbeit von Kondylis würdigte und kritisierte. Nachfolgend zitiere ich zunächst diese Passagen und schildere anschliessend Kondylis’ Reaktion auf sie.
[im Kontext hier nachzulesen] (S. XXIV-XXVII)“Den beachtlichsten, weil weitaus fruchtbarsten Gebrauch von Gedanken La Mettries hat bisher Kondylis in seinem grossen Werk über die Aufklärung gemacht (1981). Er erklärt La Mettrie auf Grund seiner antimoralischen Schriften zum konsequentesten Vertreter des ‘Nihilismus’ im 18. Jahrhundert, gebraucht aber diesen Begriff ausdrücklich nicht im üblichen abwertenden Sinn (normativ positiv auf Destruktion bezogen), sondern dazu, ‘die These von der völligen Relativität aller Werte zu charakterisieren’. Kondylis macht den so verstandenen Nihilismus zu seinem eigenen ‘wissenschaftlichen Denksystem’ und verschafft sich damit die Grundlage für seine Deutung und Analyse der Aufklärung. Obwohl er La Mettrie (eher beiläufig und implizit) in einen denkerischen Rang erhebt, an den vor ihm kein Autor je gedacht hatte, sieht er eine entscheidende Qualität seines Denkens nicht: die post- oder transnihilistische, wie man sie nennen könnte.
Dieser Mangel äussert sich schon in seiner nicht begründeten Entscheidung, Sade (obwohl er erkennt, dass dieser sich bloss ‘Denkkonstruktionen der Normativisten mit umgekehrtem Vorzeichen zu eigen macht’) zusammen mit La Mettrie in einem Kapitel als ‘Die Konsequenten’ (des Nihilismus) zu behandeln. Die unpassende Kopplung sieht nur auf den ersten Blick wie ein Formfehler aus, der durch eine Trennung des Kapitels an seiner ohnehin schwachen Nahtstelle leicht zu beheben wäre. Bei näherer Betrachtung ist sie adäquater Ausdruck seiner verkürzten Rezeption La Mettries.
Kondylis, der ausdrücklich eine ‘streng deskriptive Theorie’ anstrebt, nimmt jene Tendenzen La Mettries, die über den Nihilismus hinausweisen, ohne ‘präskriptiv’ oder ‘normativistisch’ zu sein, überhaupt nicht wahr, weil er sie logisch nicht für möglich hält. Dies beeinträchtigt seine Analyse der Aufklärungsepoche (bis einschliesslich Kant) zwar kaum; doch die Konsequenzen dieser Sichtweise machen sich in Anmerkungen zu späteren Philosophien und vor allem in seinem 1984 erschienenen Buch ‘Macht und Entscheidung’ deutlich bemerkbar. In diesem auf sehr hohem Abstraktionsniveau geschriebenen Werk, in dem kein Name eines Denkers, also auch nicht der La Mettries, fällt, legt Kondylis seinen ‘konsequent wertfreien’ ‘deskriptiven Dezisionismus’ dar, wie er den Nihilismus im angegebenen Sinne jetzt nennt. Ich kann hier nur versuchen, an Hand dieses Werkes den Ursprung zu zeigen, von dem aus zwei divergierende, in sich konsequente Entwicklungen zu den unter einem bestimmten Gesichtspunkt konträren Philosophien von La Mettrie und Kondylis führen; eine gründliche Diskussion werde ich im Rahmen einer Rezeptionsgeschichte (s. Abschn. III) vorlegen.
Kondylis behauptet zum einen — in erfreulich unzeitgemässer Unbefangenheit — die theoretische Überlegenheit seiner Betrachtungsweise für die ‘wissenschaftliche Erkenntnis des Seins’, zum anderen aber — in unerfreulich zeitgemässer Befangenheit, wie mir scheint, nämlich für den weltanschaulichen Pluralismus im gängigen Sinn — die prinzipielle (also nicht die wahrscheinliche) Unmöglichkeit, dass diese seine Betrachtungsweise sich je in nennenswertem und sozial wirksamem Masse werde durchsetzen können. Diese These Kondylis’ scheint auf den ersten Blick mit La Mettries ‘Apologie’ im ‘Discours préliminaire’ übereinzustimmen, wo dieser versichert, es werde garantiert keinen Einfluss, also auch keinen schädlichen, auf das gesellschaftliche Leben haben, wenn er in seinen Büchern ‘die Wahrheit’ sage. Doch schon Ton und — literarischer wie historischer — Kontext weisen auf die fundamentale Differenz zwischen beiden Autoren.
La Mettrie treibt ein raffiniertes ironisches, also ernstes, Spiel: zum einen mit der Pathetik von ‘Wahrheit’, mit der klerikale und antiklerikale Tugendfanatiker ihre Lehren verbrämen und ihren Herrschaftsanspruch bemänteln; zum anderen mit der paradoxen Befürchtung dieser doch wohl sittlich Gefestigten, Bücher, die allenfalls in ihren eigenen Kreisen gelesen werden, würden die Sitten des Volkes zersetzen. La Mettrie, der Pyrrhonist, ironisiert obendrein aber auch den Pyrrhonismus, die ‘Wahrheit’ der radikalen Skepsis, und will damit, ohne ‘präskriptiv’ zu sein, den Weg aus einer klassischen philosophischen Zwickmühle weisen. Kondylis’ Aussagen dagegen sind nicht ironisch gemeint, sondern rein ‘deskriptiv’ (er müsste sich auch gar nicht durch doppeldeutige Ironie schützen, wenn er die ‘Wahrheit’ sagt, denn heute, ‘nach der Aufklärung’, begegnet man sogar dieser mit — ‘Toleranz’…); sie enthalten auch keine Selbstironie, denn Kondylis hält seinen Standpunkt der ‘immanenten radikalen Skepsis’, wie er ihn auch nennt, für den einzig wirklich soliden für eine wissenschaftliche Betrachtung der Menschenwelt.
Der Gegensatz zu La Mettrie ist damit aber erst angedeutet. Klar wird er — auf direktestem Wege — durch einen weiteren Vergleich.
La Mettrie sah als Empiriker die religiöse Borniertheit der grossen Mehrzahl der ‘unaufgeklärten’ Menschen — und die quasi-religiöse der ‘aufgeklärten’. Doch diese massive Evidenz gegen seine Vorstellung von echter Aufklärung blieb für ihn eine sekundäre, der er die primäre seiner eigenen Existenz als für ihn ausschlaggebend entgegensetzte. Er sah sich sozusagen als historische Frühgeburt des Neuen Menschen. Kondylis sieht heute, ebenso realistisch wie einst La Mettrie, dass religiöse, bzw. quasi-religiöse Borniertheit noch immer ubiquitär sind. Die zusätzliche ’empirische Last’ von 230 ‘aufklärerischen’ Jahren jedoch hat ihn die Rangfolge der beiden Evidenzen, die für La Mettrie galt, umkehren lassen: Kondylis sieht seine eigene Existenz nicht als modellhaft an, sondern als abartig bzw. monströs. Er meint — und untermauert diese Meinung mit einer anthropologischen, biologischen und zuletzt gar ontologischen Konstruktion –, dass Menschen wie er zwar im Grunde als einzige zu ‘wahren’ Einsichten in die grundlegende Dynamik menschlicher Gesellschaften fähig seien, aber prinzipiell nicht dazu, selbst eine Gesellschaft zu bilden: nur als ‘Parasiten’ einer nach traditionellen Prinzipien funktionierenden Gesellschaft könnten sie überhaupt existieren.”
Nachdem ich gezeigt habe, aus welchen (im Grenzfall lebensrettenden) Gründen La Mettrie das oft verwirrende Stilmittel der Ironie verwandte, fahre ich fort:
(S. XXIX)
“Sicherlich ist es oft schwierig, die subtile und vielschichtige Ironie und Selbstironie La Mettries zu erkennen bzw. kontextgerecht zu deuten, vor allem dann, wenn keine verständige Interpretation seines Gesamtwerkes zugrundeliegt. […]”
Als Beispiel nenne ich u.a. La Mettries “oft zitierten Satz, wonach die Menschen von Natur aus böse seien und es ohne die Erziehung nur wenig Gute gäbe. Dass auch ein so scharf- und freisinniger Interpret La Mettries wie Kondylis letzteren Satz in seinem Nominalwert nimmt, weist auf die Art der Schwierigkeiten, vor denen die noch zu leistende stimmige Gesamtinterpretation La Mettries steht.
II. Potentieller Rang als Philosoph
Unter Philosophen galt La Mettries Rang stets als einer genaueren Bestimmung im Grunde unwürdig. Er ist jedenfalls so niedrig, dass selbst Kondylis nur indirekt angibt, in welcher Beziehung er zu diesem Autor steht.
[…]”
(S. XXXIIIf)
“La Mettries Rang als Philosoph ist also bis heute an sich kaum umstritten. Einzig Kondylis hat einen indirekten und undeklarierten Versuch seiner grundlegenden Neubestimmung unternommen. Dieser Versuch demonstriert die Überlegenheit nihilistischen Denkens an einem so ausserordentlich komplexen Gegenstand wie der ‘Aufklärung’ und impliziert für La Mettrie, der in ihm als konsequentester Nihilist seiner Epoche eine Schlüsselposition zugewiesen bekommt, einen hohen, aber nicht näher bestimmten Rang als Philosoph bzw. sogar ‘Metaphilosoph’ Dass Kondylis diese Frage nicht explizit aufwirft und ihre Auffindung sogar durch seine gewaltsame Verquickung der Positionen La Mettries und Sades erschwert, geht auf sein Verständnis von Nihilismus (theoretisch überlegen, praktisch wertlos; siehe oben) zurück, das ihn zudem hindert, die post- bzw. transnihilistischen Tendenzen bei La Mettrie zu sehen. Dennoch: Kondylis’ Stärke in seiner Studie über die Aufklärung hat mich veranlasst, La Mettrie im Detail zu studieren; Kondylis’ (nur relative) Schwäche, die sich in seiner Version von Nihilismus (‘deskriptiver Dezisionismus’) zeigt, hat mich zu dem Versuch ermuntert, den potentiellen Rang La Mettries als Philosoph oder Metaphilosoph [inzwischen gelangte ich der Auffassung, dass ‘Paraphilosoph’ die treffendste Bezeichnung ist] näher zu bestimmen: im Rahmen eines Projekts, dem ich den Namen ‘LSR’ gab.”
Ich schickte den ersten Band der La-Mettrie-Werkausgabe, aus dessen Einleitung obiges Langzitat stammt, an Kondylis und erhielt am 16.6.1985 einen Antwortbrief, in dem Kondylis schreibt:
“[Sie haben] meiner logischen Folgerichtigkeit und meinem Humor etwas Unrecht getan — es wäre indes sowohl logisch inkonsequent als auch humorlos von mir, dies Ihnen auch beweisen zu wollen ! ! Obwohl ich nicht recht einsehe, wie Sie es logisch fertigbringen werden, durch LSR den Nihilismus transnihilistisch in einem Orgasmus gipfeln zu lassen [sic!], doch finde ich Ihren Ansatz erfrischend; er zeigt, dass die akademische Philosophie tot und begraben ist. Triumphieren sollten wir aber vorzeitig nicht: denn Esel sind schon öfters von den Toten auferstanden! Auf die Fortsetzung Ihres Unternehmens bin ich gespannt und würde mit Freude auch die nächsten Bände lesen; Ihre Vorliebe für Stirner teile ich übrigens völlig.”
[Hervorhebungen B.A.L.]
Als am 23.7.1985 die »Frankfurter Rundschau« Joachim Vahlands Besprechung von Kondylis’ 1984 erschienenem Buch »Macht und Entscheidung« druckte (die erste grössere übrigens), nahm ich dies zum Anlass, Kondylis einen Brief zu schreiben. Über die beigelegte Besprechung lohnte sich kein Wort zu verlieren. Aber ich dankte Kondylis für seine “ermutigenden Worte zu meinem ‘LSR-Projekt’ (wobei es mich nicht überraschte, dass Reich Ihnen in dieser Reihe merkwürdig vorkommt).” Und ich bat ihn, falls er gelegentlich Zeit und Lust hätte, seine Bemerkung, ich hätte seiner logischen Folgerichtigkeit und seinem Humor etwas Unrecht getan, zu erläutern.
Dieser nach Athen gesandte Brief erreichte Kondylis mit Verzögerung in Heidelberg. Er sei hier so stark beschäftigt, schrieb er von dort auf einer Karte, dass er mich vertrösten müsse; er werde aber nach seiner Rückkehr von Athen aus antworten.
Dies geschah am 19.11.1985. Eigentlich beantworte er solche Fragen grundsätzlich nicht; was er zu sagen habe, stehe in seinen Büchern; er mache aber eine Ausnahme und bitte darum, “diese kurze Antwort auch als endgültig zu betrachten.” Sie lautet:
“Es ist ungenau, wenn Sie meinen, dass der Übergang von La Mettrie zu Sade im Aufklärungsbuch unvermittelt stattfindet. Vorhanden ist aber die denkbar beste Vermittlung, nämlich Sades (zitiertes) Bekenntnis zu La Mettrie als einem geistigen Vater; die Nähe beider Denker wird übrigens durch die strukturelle Analyse ihrer Position[en] erwiesen. Sie wollen diese (enge) Nähe deshalb nicht wahrhaben, weil Sie La Mettrie eine ‘transnihilistische’ Rolle im intellektuellen Universum vorbehalten möchten. Daher finden Sie auch meine Analyse insofern unbefriedigend, als sie angeblich jene Motive ‘überhaupt nicht’ berücksichtigt, die über den Nihilismus hinausweisen würden. Das stimmt aber nicht. Die Anwesenheit normativistisch-emanzipatorischer Motive in La Mettries Denken wird von mir ausdrücklich festgestellt (S. 509), dabei aber angedeutet, dass diese Motive mit der nihilistischen (in meinem Sinne) Seite seines Denkens logisch nicht in Einklang stehen können. Den Vorwurf einer ‘verkürzten Rezeption’ meinerseits können Sie also erst dann erheben und begründen, wenn Sie nachweisen (wie Sie es im 4. Band Ihres Projektes [damals: Rezeptionen von L/S/R] tun wollen), dass der Transnihilismus — sit venia verbo — logisch überhaupt möglich ist. […] Ich erwarte die nächsten Bände Ihrer Arbeit mit grossem Interesse.”
[Hervorhebungen B.A.L.]
Dieser Brief gab mir zu denken. Wer, wenn nicht Kondylis, sollte verstehen, was ich mit “transnihilistisch” meine? Ich hatte (S. XXV) geschrieben: “Kondylis … nimmt jene Tendenzen La Mettries, die über den Nihilismus hinausweisen, ohne ‘präskriptiv’ oder ‘normativistisch’ zu sein, überhaupt nicht wahr, weil er sie logisch nicht für möglich hält.” Dies scheint Kondylis im Brief zu bestätigen. Oder will er sich, wie schon das gewaltsame Zusammenspannen von La Mettrie und Sade nahelegte, gegen diese Einsicht und die sich daraus ergebenden, erheblichen Konsequenzen sperren? Beides ging bei Kondylis wohl Hand in Hand, wie sich später zeigte. Den Gedanken einer Welt, in der Normen nicht irrational im Überich der Menschen verankert sind, wollte und konnte Kondylis nicht fassen. Sein anfängliches Interesse an L/S/R wurde denn auch bald von weiteren herkulischen Materialbewältigungsarbeiten verdrängt.
Ich respektierte jedenfalls Kondylis’ eingangs geäusserten Wunsch und fragte nicht noch einmal nach.
In der Einleitung zum 2. Band der La-Mettrie-Werkausgabe, dem neben »Der Mensch als Maschine« selten wahrgenommenen, von La Mettrie gleichwohl als sein Hauptwerk angesehenen »Anti-Seneca« (»Über das Glück«), habe ich versucht, unter Verwendung des neu edierten Textes, meine Argumentation der Einleitung zum ersten Band zu stärken. Die Passagen, die sich auf Kondylis beziehen, lauten wie folgt:
[im Kontext hier nachzulesen] (S. Vf:)“La Mettries schon durch jene doppelte Feindschaft [sowohl die der Herrschenden als auch — und noch intensiver– die der oppositionellen Aufklärer, B.A.L.] augenfällige Sonderstellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts blieb gleichwohl bis vor kurzem wenig beachtet. Erst Kondylis erkannte 1981, dass La Mettries philosophische Position, die er vor allem in seinem Diskurs ‘Über das Glück’ (‘Anti-Seneca’) darlegt, Schlüssel für ein neues Verständnis der gesamten Aufklärungsphilosophie bis einschliesslich Kant sein kann. Ich werde diese neueste Rezeption La Mettries in Abschnitt III kurz charakterisieren und auf ein von Kondylis ungenutztes philosophisches Potential des ‘Anti-Seneca’ hinweisen, das für die so oft postulierte ‘Aufklärung über die Aufklärung’ von entscheidender Bedeutung ist.”
[…] (S. XVIIIff:)
“Die zweite Wiederentdeckung La Mettries, die das fragwürdige Wohlwollen der ersten (gerade sein Hauptwerk mehr zu entschuldigen als zu würdigen) nicht teilte, fand erst vor wenigen Jahren statt. Den Anstoss zu ihr gab Crocker mit seinen beiden Studien über die französische Aufklärung (1959, 1963). Doch erst Kondylis (1981) ist als eigentlicher Wiederentdecker La Mettries (als Autor des ‘Anti-Seneca’) anzusehen. Er anerkennt zwar Crockers ‘grosses Verdienst, den Nihilismus als organischen Bestandteil bzw. als logische Möglichkeit der Aufklärung erfasst zu haben’, ersetzt aber dessen ‘triviales Verständnis’ von Nihilismus als ‘anarchische Zerstörungslust’ durch das von Nihilismus als ‘These von der Relativität und Fiktivität aller Werte’. Bei Kondylis avanciert La Mettrie deshalb vom affirmativen Theoretiker des Bösen, der er bei Crocker ist, zum konsequentesten Denker der Aufklärung, vom (negativen) Normativisten zum Nihilisten.
Obwohl Kondylis Nihilismus als den Schlüsselbegriff seiner Analyse somit wesentlich anders definiert als Crocker, stimmt er mit diesem doch darin überein, dass La Mettrie wesentlich die gleiche philosophische Position vertritt wie ein anderer Autor, der auch sonst in der neueren Literatur gelegentlich mit La Mettrie in Verbindung gebracht wird, nämlich Sade. Kondylis behandelt deshalb beide gemeinsam unter dem Titel ‘Die Konsequenten’ in einem Kapitel seines Buches. Da hier eine Kritik dieser Kopplung La Mettrie/Sade nicht möglich ist, möchte ich die bisherige philosophische Würdigung Sades kurz charakterisieren, um so auf einem heuristisch effektiveren Weg meine These zu begründen, dass nicht die Betonung der Gemeinsamkeiten zwischen La Mettrie und Sade, sondern die Freilegung ihrer Gegensätze zu der eingangs genannten ‘Aufklärung über die Aufklärung’ zu führen vermag.
Die Entdeckung, dass Sade auch als Philosoph gesehen werden kann, ist relativ jungen Datums. Sieht man von surrealistischen, existentialistischen und verwandten Arbeiten über den ‘göttlichen Marquis’ ab, so bleiben drei repräsentative Studien, die Sades ungewisses Selbstverständnis, ‘die Aufklärung irgendwie weitergebracht zu haben’, zu einer überraschend bündigen Gewissheit transformiert haben. Ich werde sie kurz in chronologischer Folge vorstellen.
Die erste dieser Sade-Bearbeitungen stammt aus der sog. Frankfurter Schule. Als 1934 das Sade-Buch von Gorer erschien, wurde es in der ‘Zeitschrift für Sozialforschung’ fast begeistert besprochen. Sades ‘zum Teil sehr fruchtbare Gedanken’ blieben jedoch zunächst ohne erkennbaren Einfluss auf die ‘Kritische Theorie’, die diese Schule in den 30er Jahren formulierte. Erst ein Jahrzehnt später dienten Sades Gedanken den führenden kritischen Theoretikern als Sukkurs in theoretischer Bedrängnis. Als nämlich Horkheimer sah, dass sein Versuch, die normativistische Aufklärung nach Marx, Nietzsche, Freud und (Max) Weber theoretisch neu zu begründen, gescheitert war, erblickte er (mit Adorno) in Sades Werk einen ‘einzig’ dastehenden Beitrag zur Aufklärung: den ‘Hebel zu ihrer Rettung’. Seine berühmt gewordene, mit Sade als Gewährsmann postulierte ‘Dialektik der Aufklärung’ (1947) war jedoch keine Rettung (im Sinne einer Aufklärung über bisherige Aufklärung), sondern eine Denunziation von Aufklärung (im Stil enttäuschter Konvertiten).
Die zweite Studie, die den Kern aufklärerischen Denkens mit Sades Hilfe freizulegen versucht, lieferte der katholische Philosoph Arno Baruzzi (1968). Er stellt alle Materialisten der französischen Aufklärung in eine Reihe: ‘Es soll durch die Linienziehung … ein neuer Mündungspunkt gesetzt werden, nach dessen Ortung auf neuer Ebene ein Vergleich dieses Materialismus mit dem marxistischen erfolgen könnte.’ La Mettrie erscheint bei Baruzzi am Anfang, Sade am Ende dieser Linie. Sade allein sei wirklich konsequenter Materialist und denke ‘die Idee der atheistischen Gesellschaft zu einem von seinen materialistischen Vorläufern ungeahnten Ende.’ Sieht man Freiheit vom Gottesglauben als ein Minimalkriterium aufklärerischen Denkens, so ist Baruzzis — freilich nicht sehr überraschendes — Fazit erst recht ein Verdikt über eine weitergehende Aufklärung: ‘Die Frage … ob eine atheistische Gesellschaft glücklich sein könne, findet bei Sade eine letzte Antwort. ‘
Die dritte hier zu nennende Arbeit ist die schon erwähnte von Kondylis (1981). Hier erscheint Sade als konsequenter (Vor-)Denker eben jenes Nihilismus (im oben definierten Sinn), der dem Autor selbst als Schlüssel zum Verständnis der Aufklärung dient. Kondylis analysiert die Aufklärung bis Kant und erkennt sie als blosse Spielart des altbekannten Normativismus. Daraus und aus dem Schicksal des aufklärerischen Denkens nach Kant schliesst er auf die ‘Unvermeidbarkeit der sozialen Vorherrschaft des Normativismus (unter welchem Vorzeichen auch immer)’. Nihilisten, also endgültig ‘aufgeklärte’ Individuen, gäbe es zwar (vereinzelt), doch könnten diese (auch wenn es viele gäbe) niemals eine Gesellschaft (auch keine qualitativ neue) bilden.
Die drei genannten Autoren sind zeitgenössische Repräsentanten der drei Hauptströmungen der (Moral-)Philosophie: Baruzzi vertritt die älteste, die ich kurz als ‘theologische’ bezeichnen möchte, Horkheimer die ältere (normativistische) aufklärerische, Kondylis die neuere (wertfreie) aufklärerische. Sie sind sich als Aufklärungsforscher in ihrem Urteil über bisherige Erscheinungsformen von Aufklärung und über ‘Aufklärung an sich’ zumindest prinzipiell überraschend einig. Der Absage, die die Theologen der Aufklärung schon immer erteilten, haben sich die avanciertesten Vertreter aufklärerischen Denkens so oder so angeschlossen. Auffälliges Symbol dieser auf den ersten Blick seltsam anmutenden ‘Dreieinigkeit’ ist die Figur des Marquis de Sade. Die Anthropologie dieses einst von Flaubert äusserst hellsichtig als ‘ultrakatholisch’ bezeichneten Schriftstellers ist nicht nur bei Baruzzi, sondern auch bei Horkheimer und Kondylis die entscheidende Determinante ihrer Theoriebildung.
Sades kolossales Werk wurde von jedem der drei Autoren mit beachtlicher Geduld und Akribie ausgewertet. Seine Philosophie wurde aus verstreuten Gedanken und den Äusserungen von Romanfiguren mit grossem Aufwand rekonstruiert. Im Ergebnis stimmen sie prinzipiell überein. La Mettries Werk hingegen, das nicht nur im Vergleich eher konzis zu nennen ist, wurde von den drei Autoren sehr unterschiedlich gesehen.
Horkheimer ignoriert La Mettrie und exponiert Sade, und dies, obwohl Sade in der erwähnten Besprechung als ‘Anhänger La Mettries’ bezeichnet wurde, und obwohl La Mettrie, im Gegensatz zu Sade, traditionell der Philosophiegeschichte zugerechnet wird. Vermutlich leitete ihn dabei die gleiche Intuition, die seinen aufklärerischen Ahnherren im 18. Jahrhundert Schweigen gebot, und die ihn, wenn er die ‘dunklen Schriftsteller’ des 19. Jahrhunderts vor sich hatte, zu Nietzsche hinzog und um Stirner stets einen grossen Bogen machen liess.
Baruzzi behandelt La Mettrie zwar ausführlich. Seine Interpretation steht aber unter der Prämisse, dass Atheismus, Materialismus und Immoralismus, die La Mettrie und Sade gemein seien, zwangsläufig eine gemeinsame Anthropologie zum Grunde (oder zur Folge) haben, die jedoch bei La Mettrie als dem früheren Autor erst rudimentär vorliege. Das gesamte Kapitel, das Baruzzi La Mettrie widmet, ist jedoch von einer Gereiztheit über sein Objekt durchzogen, die im Sade-Kapitel nicht zu bemerken ist und daher zu kommen scheint, dass der Autor die Gewaltsamkeit seiner Interpretation spürt, ohne von seiner Prämisse ablassen zu können. Jedenfalls gelingt es ihm nicht, überzeugend zu belegen, was er abschliessend noch einmal beschwört: das ‘skandalöse Glück’ La Mettries treibe bei Sade ‘seine schwarzen Blüten hervor’.
Kondylis habe ich oben als eigentlichen Wiederentdecker des ‘moralphilosophischen’ La Mettrie bezeichnet, weil erst er, anders als Crocker, mit einem brauchbaren Nihilismusbegriff operiert, und weil deshalb erst er, anders als Baruzzi, La Mettrie (ranggleich neben Sade) in eine Schlüsselposition zum Verständnis der Aufklärung rückt. Gleichwohl verhehlt Kondylis nicht, bei welchem seiner beiden ‘konsequenten Nihilisten’ seine grösseren Sympathien liegen: ‘In dieser Hinsicht [logische Struktur] ist allerdings La Mettrie als nihilistischer Denker überlegen bzw. konsequenter. Dafür bleiben aber Sades Emphasis und Kühnheit einzigartig.’
Wenn nun Kondylis Sades normativistische Tendenzen bagatellisiert und logische Inkonsequenzen entschuldigt; wenn er aus einem Text Sades sehr frei ein Bekenntnis zu La Mettrie herausliest; wenn er La Mettrie eher ‘sadisch’ interpretiert, um beide gemeinsam in einem Kapitel zu konsequenten Nihilisten zu stilisieren (worauf er für seine Analyse keineswegs angewiesen wäre); so interessiert dies hier nur, weil es den Blick trüben könnte für jenes vorn erwähnte Potential im Werke La Mettries, vor allem im ‘Anti-Seneca’, das ich in meinem La-Mettrie-Essay als ‘post- bzw. transnihilistische Tendenz’ umschrieben habe. Kondylis übersieht in seiner Analyse, dass La Mettrie und Sade, trotz einiger ‘Ismen’, die sie formal verbinden mögen, anthropologische Auffassungen vertreten, die inhaltlich in ihren wesentlichen Bestandteilen konträr sind. Dieser Gegensatz könnte sich als ausschlaggebend für eine Kritik des Normativismus erweisen, die die Empirie Kondylis’ nicht ignoriert und dennoch nicht in praktischem ‘Als-Ob’-Normativismus endet.
— IV —
Ich habe diese Einleitung so knapp wie möglich gehalten und mich deshalb auf die skizzenhafte Darstellung jener beiden Etappen der Rezeptionsgeschichte von La Mettries ‘Anti-Seneca’ beschränkt, in denen allein die singuläre Qualität dieses Werkes empfunden oder erkannt worden zu sein scheint: die erste, die Reaktion der Zeitgenossen La Mettries bis zur Französischen Revolution, und die bislang letzte, die Interpretation La Mettries durch Kondylis. Aus dem gleichen Grunde habe ich auf die Präsentation der dokumentarischen und argumentativen Begründung meiner Thesen weitgehend verzichtet, jede inhaltliche Bezugnahme auf La Mettries Text vermieden und meine Ausführungen zu dessen potentiellem philosophischen Rang in einer eher deiktisch zu nennenden Diktion gehalten.
Zwei Empfehlungen sind es somit auch, die ich dem Leser des ‘Anti-Seneca’ geben möchte:
1. Er möge stets die Frage im Auge behalten, aus welchem Grunde die Aufklärer der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts La Mettrie so ernst nahmen, dass sie ihn zum Narren machten, um ihn nicht ernst nehmen zu müssen.
2. Er möge sich mit Kondylis auseinandersetzen: in einem ersten Schritt, anhand des folgendes Textes, indem er prüft, ob die von Kondylis vorgenommene Fusion von La Mettrie und Sade zureichend begründet ist; und (wenn er dies verneint) in einem zweiten Schritt, indem er bedenkt, ob Kondylis’ fundamentale Schlussfolgerung von der ‘Unvermeidbarkeit der sozialen Vorherrschaft des Normativismus’ auch dann noch zwingend bleibt, wenn bei einer Kritik des Normativismus statt Sade La Mettrie die Schlüsselrolle zugewiesen bekäme; kurz: ob das letzte Wort zum Thema ‘Aufklärung’ (das bisher Kondylis sprach) im Endeffekt auf dasselbe hinausläuft, was zynische Theologen schon immer wussten.”
Kondylis bedankte sich am 20.6.86 “für das schöne Büchlein” (La Mettries »Über das Glück«) und fand: “Die Übersetzung ist sehr sorgfältig gemacht und gut lesbar.” Auf meine in der Einleitung weitergeführte Kritik an seiner Interpretation La Mettries ging Kondylis inhaltlich nicht ein; stattdessen schrieb er: “Dass Sie in Ihrer Einleitung manches missverstehen oder falsch darstellen, finde ich — bei der unvermeidlichen Suche nach Originalität — verständlich und sogar sympathisch. Für La-Mettrie-Kenner sollte jedenfalls Humor auch bei der Behandlung ‘geistiger’ Fragen oberste Tugend bleiben !”
Obwohl ich Kondylis’ Stellungnahmen als sehr unzulänglich empfand, respektierte ich seinen schon im Brief vom 19.11.1985 sehr bestimmt geäusserten Wunsch und unterliess jede Erwiderung oder weitere Bitte um genauere Ausführung.
Da Kondylis mir geschrieben hatte, er teile “meine Vorliebe für Stirner völlig” (s.o.: 16.6.1985), schickte ich ihm, als im November 1986 die von mir neu herausgegebenen »Parerga« Stirners gedruckt waren, ein Exemplar.
Kondylis begrüsste in seiner Antwort vom 11.12.1986, “dass diese Texte zugänglich gemacht werden”, bezweifelte jedoch, “dass sie im heutigen geistigen Klima der Bundesrepublik, wo der vage und rührselige Moralismus Habermasscher Prägung gleichsam als ideologische Begleiterscheinung der ‘Gemeinsamkeit aller Demokraten’ herrscht, die erwünschte Resonanz finden [wird].” “Immerhin”, fügte er hinzu, “werden Sie die Feinschmecker auf Ihrer Seite haben.”
Das Thema “La Mettrie” schien für Kondylis zu dieser Zeit bereits erledigt. Tatsächlich nennt Kondylis in seiner grossen Studie zur neuzeitlichen Metaphysikkritik, die er damals in Arbeit hatte, La Mettrie nur noch beiläufig und in einem Atem mit Sade (– und Stirner übrigens gar nicht). Dennoch schrieb ich ihm, als die Bände 3 und 4 der La-Mettrie-Werkausgabe erschienen waren, noch einmal, an seinen letzten Brief anknüpfend: “Sie hatten freilich recht mit Ihrem Hinweis, dass die von mir herausgebrachten Texte (‘LSR’) im gegenwärtigen geistigen Klima unserer ‘Demokratie’ wenig Resonanz finden werden. Selbst die ‘Feinschmecker’, die Sie als Interessenten vermuteten, hielten sich bisher sehr zurück.” Es folgt die Mitteilung, dass die Bände 3 und 4 der La-Mettrie-Edition erschienen sind.
Kondylis hat auf diesen Brief nicht mehr geantwortet und mir stattdessen seine kleine Marx-Studie (1987) mit einer Widmung geschickt. So weiss ich nicht, ob Kondylis Band 4 noch zur Kenntnis nahm, in dessen Einleitung ich — wie nachfolgendem Auszug zu entnehmen ist — hervorhebe, warum ich die meist als “Porneutik” übergangene Schrift »Die Kunst, Wollust zu empfinden«, für ein Werk halte, das zur Bestimmung der philosophischen Position La Mettries als zu Sade antipodische sehr von Bedeutung ist:
[im Kontext hier nachzulesen] (S. XIIff:)“Die Singularität von La Mettries weltanschaulicher oder philosophischer Position im 18. Jahrhundert, die von den Zeitgenossen so eklatant bestätigt wurde, besteht wesentlich in seinen Auffassungen über das Schuldgefühl und, untrennbar damit verbunden, über ‘die Kunst, die Wollust zu empfinden’ (so der Titel der autorisierten deutschen Übersetzung von ‘L’art de jouir’). Deshalb ist sein Werk über die Wollust, in der revidierten Fassung von 1751, sein neben dem ‘Anti-Sénèque’ wichtigstes philosophisches Werk.
[…] Erst in den letzten zwanzig Jahren befassten sich einige wenige Autoren, meist Romanisten, ernsthaft mit jenen Schriften La Mettries, die zuvor wegen ihres moralkritischen Inhalts insbesondere von wohlwollenden Betrachtern eher übersehen wurden. John Falvey und Aram Vartanian versuchten dabei auch, La Mettries Auffassungen über ‘die Kunst, Wollust zu empfinden’ gerecht zu werden. Ann Thomson indes sah in dieser Schrift nichts als eine ‘Glorifizierung der Sexuallust’ und zählte sie deshalb nicht zu La Mettries philosophischen bzw. theoretischen Werken.
[…] Philosophen haben diese Arbeiten, die das übliche Bild vom ‘mechanistischen Materialisten’ La Mettrie als reduziert und verzerrt erscheinen lassen, bisher kaum rezipiert. Wichtigste Ausnahme ist Panajotis Kondylis, der den ‘neuen’ La Mettrie zur Schlüsselfigur seiner Untersuchung ‘Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus’ (1981) machte. Kondylis verwendet allerdings einen fragwürdigen theoretischen Kunstgriff: Er stilisiert La Mettries Philosophie zusammen mit der Sades zu einem (wertrelativistischen) Nihilismus, so dass La Mettrie und Sade bei ihm als gleichgesinnte Denker erscheinen. Kein Werk La Mettries ist aber wohl besser geeignet als das hier einzuleitende, um zu zeigen, dass La Mettrie — in seinen Auffassungen über Ursprung und Wesen der Wollust, die im Zentrum seiner Philosophie stehen — tatsächlich Sades Antipode ist.*
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* Um die Verquickung von La Mettrie und Sade bemühten sich bisher Vertreter aller drei moralphilosophischen Grundpositionen: der theologischen, der aufklärerisch-normativistischen und der aufklärerisch-wertrelativistischen. Zu dieser höchst bemerkenswerten ‘Dreieinigkeit’ vgl. Bernd A. Laska: Einleitung. In: La Mettrie: Über das Glück.. (‘Anti-Seneca’). Nürnberg 1985. S. XVIII-XXIII.”
[vgl.a. den Auszug hier (s.o.)]
Ich hatte in den Bänden 1 und 2 der La-Mettrie-Werkausgabe angekündigt, dass deren 3. (und letzter) Band mit verschiedenen kleineren Schriften unter dem von mir gewählten Titel »Der Philosoph und die Lust« erscheinen würde, habe dann aber umdisponiert und 1987 unter zwei anderen Titeln die Bände 3 und 4 ediert. Als ein schwer deutbares, indirektes Signal Kondylis’ mag erscheinen, dass er 1991 eine Anthologie unter eben jenem Titel »Der Philosoph und die Lust« herausgab und für diese — die Existenz der deutschen Werkausgabe ignorierend — Textpassagen La Mettries eigens neu übersetzen liess. In der Einleitung vertritt er, freilich aus der Textmasse nicht hervorgehoben, seine Position von 1981: Er nennt La Mettrie und Sade in einem Atem als “Hauptexponenten” des “nihilistischen Hedonismus” (S. 26) und macht dann erneut klar, dass seine Sympathien bei Sade liegen (während er La Mettrie, den er einst immerhin als den “konsequenteren” von beiden erkannt hatte, nun als dessen harmlosen, tändelnden, “lächelnden” Vorläufer verblassen lässt). Diese Interpretation hat Kondylis offenbar als konstitutiv unerlässlich für die all seinen geistesgeschichtlichen Studien zugrunde liegende Philosophie festgehalten.
Kondylis sagte in einem Interview (“Nur Intellektuelle…”, Dt.Z.Philos. 42, 1994, S. 685), dass eine “zentrale Erfahrung” seines geistigen Lebens die Auseinandersetzung mit dem Marxismus gewesen sei, so dass am Ursprung seiner gründlicheren Forschungen “das Interesse an der Erhellung der Vorgeschichte des Marxismus und der weltanschaulichen Voraussetzungen seiner Geschichtsphilosophie” gestanden habe. Dabei spätestens muss er auf Stirner und dessen entscheidende Rolle bei Marx’ Konzeption des historischen Materialismus gestossen sein (vgl. Bernd A. Laska: »Ein dauerhafter Dissident«). Veröffentlicht aber hat Kondylis — obwohl er (s.o.) meine “Vorliebe für Stirner” ausdrücklich teilt — als Ergebnis seiner Studien zur “Erhellung der Vorgeschichte des Marxismus” (ebd.) ein 700-seitiges Buch über »Die Entstehung der Dialektik« bei Hölderlin, Schelling und Hegel. Anschliessend versenkte er sich in allergründlichste Studien zur “Aufklärung”. Er fand La Mettries vielfach verschüttete Position, nahm dessen “Nihilismus” als Basis seiner Analyse, verbarg diese dann aber wieder so geschickt in gewaltigen Textmassen, dass keiner der Rezensenten seines monumentalen Werks über die Aufklärung (1981) sie in ihrer Bedeutung wahrnahm.
Kondylis’ Reaktion auf meine Publikationen musste mir zu denken geben. Meine Kritik war so klar formuliert, dass ich nicht annehmen konnte, er habe sie nicht verstanden. Erst hatte er sich mit mir regelrecht solidarisch erklärt — gegenüber der etablierten, akademischen Philosophie, die, wie er mir schrieb, geistig tot sei. Ein abwehrender ironischer Ton — vor allem in puncto Reich — war gleichwohl nicht überhörbar. Dann hatte er, nach einer schwachen Verteidigung seiner Interpretation La Mettries, mit einigen Floskeln eine inhaltliche Diskussion kategorisch abgelehnt und bald kein Interesse mehr am Fortgang meines LSR-Projekts gezeigt. Später setzte Kondylis seine grossen Studien und publizistischen Aktivitäten auf eine Weise fort, die die etablierten Institutionen zu würdigen wussten. Und Kondylis, ihr einstiger Verächter, akzeptierte dies. Er nahm zwei staatsoffizielle Auszeichnungen entgegen: den Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und die Goethe-Medaille. Beides vermerkte er in dem “Forschungsbericht”, den er über seinen 10-monatigen Aufenthalt (1994/95) als “fellow” am Berliner Wissenschaftskolleg verfasste. Mir indes erschienen seine Arbeiten seit Mitte der 80er Jahre Jahre, die ihm wachsende öffentliche Aufmerksamkeit einbrachten, immer weniger interessant.
Kondylis’ sich bald einstellendes Desinteresse am LSR-Projekt nahm mir einige Illusionen. Wenn sogar dieser weder staatlich alimentierte noch auf Marktabsatz angewiesene Mann, der zudem La Mettrie als geistesgeschichtliche Schlüsselfigur wiederentdeckt hatte, so reagierte: was hatte ich da von denen zu erwarten, die ihre Existenz an vielerlei materielle und ideelle Abhängigkeiten geknüpft haben? Die nächsten Jahre bestätigten diese pessimistischen Erwartungen. Obwohl das LSR-Projekt durch den Abriss im einleitenden Essay zu La Mettries »Der Mensch als Maschine« und die Verweise in den Einleitungen der folgenden Bände in einschlägigen Kreisen einigermassen publik geworden sein musste, erzeugte es nur ein sehr geringes Interesse — stattdessen eher Berührungsängste: kenntlich etwa, wenn Texte La Mettries nicht nach den LSR-Ausgaben zitiert und selbst übersetzt werden.
Als Konsequenz dieser Erfahrungen in der Frühzeit des LSR-Projekts änderte ich dessen Programm, das ursprünglich, wie auf der letzten Seite von »Der Mensch als Maschine« abgedruckt, aus drei Bänden zur Rezeption jeweils La Mettries, Stirners und Reichs sowie einem Abschlussband bestehen und in ca. zwei Jahren abgeschlossen sein sollte. Die Widerstände und Abwehrmechanismen gegen L/S/R traten nun in den Vordergrund meines Interesses; sie waren aufzudecken und zu studieren, bevor an ein Verständnis für die Intentionen von L/S/R auch nur zu denken war. Hier bot sich allerdings aus verschiedenen Gründen vorzugsweise Stirner bzw. dessen Wirkungsgeschichte an, so dass anstelle der ursprünglich geplanten Schriftenfolge zunächst die »Stirner-Studien« erscheinen.
25. Juli 1998
www.lsr-projekt.de/kondylis.html
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